30 Jahre sind nicht genug

When I was young

It seemed that life was so wonderful

A miracle, oh, it was beautiful, magical

And all the birds in the trees

Well, they'd be singing so happily

So joyfully, oh, playfully, watching me

Das Hallenstadion tun Leute wie ich sich nicht allzu oft an. Doch wer schon seit der frühesten Schulzeit zu Hits wie "How much is the fish" oder "Fuck the Millenium" gebounced hat, will sich das biologische Experiment Scooter nicht entgehen lassen. Denn entgegen allen Erwartungen hat es H.P. Baxxter in die 20er Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts geschafft - lebend. Für die weniger privilegierten der Leserschaft - also diejenigen, denen auch Phrasen wie Hyper Hyper oder Friends will be friends will be friends gar nichts sagen: Scooter ist eine EDM Band, welche Genres wie Happy Hardcore, Rave und Bouncy Techno bedienen. Also Musik von MDMA-Liebhabern für XTC-Aficionad@s, Amphetaminenthusiasten und anderen verlorenen Seelen. Laute, wuchtige Bässe, schnelle Beats mit Refrains zum mitgrölen. Selbst wenn dem Refrain die Lyrik fehlt.

Crank it uuuuuup

Uuuuuuuuuup

Uuuuuuuuuup

Uuuuuuuuuup

Crank it uuuuuup

Das Hallenstadion ist eher voll (vielleicht zehntausend Besuchende). Für läppische 70 Franken konnte sich ein Ticket für die Jubiläumstournee "Thirty! rough and dirty" der international bekannten Rave-Legenden gegönnt werden. Nach dem speditiven Einlass an den Pforten zur Ravehölle (Taschenkontrolle: Getränke wegwerfen und gegebenenfalls gefährliche Gegenstände sicher stellen) geht's hinab in die Arena. Aber nicht über die direkte Treppe vom Foyer auf das sonst eisige Tanzparkett, nein. Es geht erst in den unteren Stock, all die Plebejer dicht gedrängt wie Sardinen in der Dose vor-, neben- und hintereinander. Die aus tausenden Einzelteilen bestehende Fleischlawine drückt sich äusserst zähflüssig durch den Tunnel, und anstatt an einem Kiosk oder einem Tresen führt der langwierige Marsch der Ahnungslosen - ganz zum Verdruss meiner Begleitung, die sich gerade einen blauen Punisher in den Rachen schiebt - nicht an einer Bar, sondern an der Garderobe vorbei. So muss die bittere Pille ohne jedwelche Flüssigkeit heruntergewürgt werden. Eine gefühlte Stunde (realistischer aber lediglich 20 Minuten) später befinden wir uns in der riesigen Halle. Dem Alter, einem generellen Unwillen und dem zu niedrigen MDMA-Pegel geschuldet bleibe ich mit der kleinen Gruppe ehemaliger Studierender, mit welchen ich das Vergnügen teile, hinten im Raum stehen.

Die Bühne besteht aus einer Kaskade von Bühnenböden, die wie Terassen nach hinten führen. Die Wände dahinter und daneben sind gigantische Videopanele, auf welchen zwischen den live übertragenen Medium-Shots und Close-Ups von H.P. höchstselbst Animationen, die den buntesten und 3D-Effekt-reichsten feuchten Träumen der 90er Jahre entsprungen sein müssen abgespielt werden: Eine Kobra, dieser 3D Chrom Effekt für Schriften, Feuer in diversen Formen - das ganze Programm erfolgreich verdrängter Einzelheiten dieser lange überwundenen Ästhetik minderwertiger, computergenerierter Animationen vorsichtshalber lieber zu dick als zu dünn aufgetragen. Dann geht es los. Auf der Bühne finden sich ein: H.P. Baxxter (selbstverständlich), der seit seinen ersten Grosserfolgen anstatt gealtert deutlich verjüngt scheint, hinten links ein Typ mit zwei grossen MIDI-Pianos (oder Synthesizern?), welche während der Liveshow spärlich betastet werden, hinten rechts ein anderer Typ, ebenfalls im besten Alter und allem Anschein nach an einem DJ-Pult stehend, welches ebenfalls nicht ganz so aktiv in Gebrauch zu sein scheint, wie es bei einer live Musikveranstaltung sonst oft vorkommt. Visuell unterstützt wird das Dreigespann von acht Gogo-Tänzerinnen.

Die Norddeutschen heizen die bunt gemischte Masse von Feierwütigen ordentlich ein: nach nicht einmal drei Hits (zirka 10 Minuten) bebt das Stadion! Es wird gejohlt, gebounced, gehüpft. Doch nach gerade einmal 26 Minuten Auftrittszeit passiert etwas merkwürdiges: während eindeutig-nicht-Scooter Aufzugsmusik erklingt, verlässt Protagonist H.P. die Bühne. Nach nur knapp drei Minuten erscheint er wieder, so dass die Show mit neuem Elan weiter gehen kann. Immerhin ist der Star des Abends biologisch amtliche 60 Jahre jung. Was die Frage aufdrängt: wenn er drei mal so alt ist wie seine Partnerin, aber nur knapp zehn Jahre älter aussieht, ist es dann wirklich creepy?

I want you back for the rhythm attack

Coming down on the floor like a maniac

I want you back for the rhythm-attack

Get down in full effect!

I want you back for the rhythm attack

Coming down on the floor like a maniac

I want you back, so clean up the dish

By the way, how much is the fish?

How much is the fish?

Die Hits werden einen nach dem anderen durchgeballert. Ist auch kein Wunder bei dem œvre, welches ausschliesslich aus (Kassen- und Kopf-an-die-Wand-)Schlagern zu bestehen scheint. Die Stimmung ist ausgelassen, das Haus annähernd voll, die Kassen klingeln und - als ob das alles nicht schon genug wäre - wird der Bühnenauftritt (könnte es denn auch wirklich anders sein) mit Pyrotechnik noch weiter aufgewertet. Dies aber nicht so, wie du dir das jetzt wahrscheinlich vorstellst, so Rammstein-mässig mit Feuerkanonen und Spezialeffekten und Stunt-Menschen und hastdunichtgesehen, nein. Auf Schweizerdeutsch nennen wir es: Ragetli. Ja, diese kleinen Böller, welche heulend einige Meter weit durch die Luft fliegen bevor sie eher unspektakulär explodieren, werden - es bleibt unklar warum - von beiden Seiten der Hallendecke zur jeweils anderen Seite abgefeuert. Visuell enttäuschend überrascht jedoch, dass die Knallgeräusche sich deutlich über die ins Limit komprimierte Musik hinwegsetzen. Nach abermals 23 Minuten verlässt der Star des Abends nochmals die Bühne (selbes Szenario: merkwürdige Pausenmusik und eine auffällige Leere auf den Bühnenböden). Ein Bekannter wird mir später erklären, dass laut Medienberichten Stars regelmässig reinen Sauerstoff inhalieren müssen um fit zu bleiben, gerade wenn sie schon ein wenig gealtert sind. Journalismus ist wohl so tot wie der abendliche Kulturgenuss in Zürich und die Hirntoten der Redaktionen der Welt nur zu froh, auch den letzten Gedankenmüll veröffentlichen zu können - so lange content produziert wird.

Mit dem leicht versteiften, neu gefassten Elan, den lateinamerikanisches Marschpulver so mit sich bringt, erklimmt Hans-Peter Bäcker (oder wie Frontmann und einziges überlebendes Gründungsmitglied(?) der Band richtig heisst) wieder den Schauplatz, um das dritte Drittel des Abends zu bestreiten - schliesslich befinden wir uns hier im Eishockeystadion. Wir hüpfen und grölen, tanzen und schwitzen zusammen mit den restlichen zehntausend Feierwütigen, angetrieben durch Nostalgie und die schon seit Kindesalter in uns hineingeprügelten Hardcore-Beats. Es riecht nach jugendlichem, mit Amphetamin angereichertem Testosteron.

Zeit für eine Milchbüchleinrechnung: zehn tausend Eintritte à 70 Franken gibt 0.7 Millionen Franken Eintrittseinnahmen, dazu kommen Garderobe, Gastronomie und Merchandise. Wenn wir davon ausgehen wollen, dass der Durchschnittsgast lediglich 100 Franken ausgibt (und tatsächlich zehntausend Leute da sind) kommen wir auf Abendeinnahmen von einer glatten Million. Ich bin kein Experte in der Frage, aber ich gehe davon aus, dass Gogo-Tänzerinnen nicht besonders teuer sind, vielleicht einen Tausender pro Tänzerin? Oder realistischer: 300 Euro pro Tänzerin pro Show (tatsächlich ziemlich viel Geld im Grossen Kanton) und einen Taui für die Chefin. 7x300+1000 = 3100 Höger. Einen Tausender pro Musiker, Miete für die Halle, die Musikanlage, die Techniker, die Stagehands, die Pyrotechnik. Handgelenk mal Pi gibt das noch immer einen guten 6-stelligen Betrag Gage für die Produktionsfirma und den Star des Abends - konservativ geschätzt. Keine schlechtes Salär für jemanden, der ohne herausragendes Talent sein Geld mit Gejohle und Lyrik verdient.

Aaaah! I ramp, me no ramp

Me no skin

Me no play, yeah

When me chant 'pon the microphone

And me say with the DJ

Junglists in the place

Junglists on the case

Scooter, are you readyyy?

Draussen, nach der Show, auf dem inzwischen seiner Geschichtsträchtigkeit entledigten ZSC-Lions-Platz, zirka da, wo jahrzehntelang die Statue des plötzlich verstorbenen Chad "Sly" Silver stand, finden wir uns wieder. Mit uns strömen aus dem Hallenstadion: Turnvereine (gut zu erkennen an den einheitlichen T-Shirts mit entsprechenden Aufdrucken), Junggesell(inn)enabschiede, Freundesgruppen, Betriebsausflüge und Einzelpersonen. Punks, Hippies, Metal- und Skinheads, Hip-Hopper, Techno-Heads, Normalos, Nerds. Meine Reminiszenz pflegt auch Skater in meine Erinnerug mit ein und Juggalos, ein paar Gopniks und warum nicht noch ein paar Teddies, doch meine Erinnerung trügt. Ohne zu wissen, was an diesem Abend auf dem Programm steht wären Rückschlüsse lediglich aus dem Aussehen des Publikums schwierig. Ausser einer ins Auge stechenden, einheitlich hellen Hautfarbe der Anwesenden gibt es kaum gemeinsame Nenner, die alle gleichermassen beschreiben.

So kann also ein Dienstagabend in der Schweizer (Kultur-)Metropole auch aussehen: ein halber Töggel, kaum Bier und 90 Minuten Ravemusik. Für viele war es wohl ein Ereignis der Sonderklasse: ausgelassenes Feiern zu Hits, die man weder verdrängen kann noch will. Auf der anderen Seite der Betriebsschranken steht ein verlockendes Business. Wie wenig (finanziellen) Aufwand muss betrieben werden, um zehn tausend Gästen ihr Geld zu entlocken? Die Videoshows sind einmalig produziert worden, die Tänzerinnen und die Musiker auf der Bühne, die nicht HaPe Beckster sind, wirken austausch-, ihre Gagen damit verhandelbar. Stagehands, Gastro und Sicherheitsleute sind billigste Arbeitskräfte, die auf Abruf stundenweise abgerechnet werden. Alles in allem überschaubare Kosten, auf mindestens eine Million Umsatz an einem Abend. Während kleine Betriebe, lokale Künstler:innen und Kulturschaffende - als ob es sich um ein in Stein gemeisseltes Gesetz handelt - mit (selbstauferlegter?) Armut kasteien und mit jedem noch so kleinen (monetären) Erfolg sich Gedanken um Reinvestition des vermeintlichen Ertrages und Förderung junger Talente machen, wird an Abenden wie diesem einfach abgeschöpft. Hauptsache H.P. Baxxter kann genau so weiter machen wie bisher. Vielleicht kommt er ja in dreissig Jahren wieder zurück, womöglich mit einer noch jüngeren Partnerin und einem Gesicht, das von demjenigen eines Neugeborenen nicht mehr zu unterscheiden ist? Wir werden sehen.

Rein intellektuell ist das nichts für mich. Zu stumpf, zu stupide, zu viel Effekt bei zu wenig Hascherei, ein zu penetranter Testosteron-Schweiss-Geruch bei einer Show, die ausser der leichtbekleideten Jugend der Tänzerinnen und den satten Bässen der Hardcore-Hymnen wenig zu bieten hat. Für eine durch Aufputschmittel und Massenhypnose angeheizte Workout-Session ist es mehr als brauchbar.

Ein Emoji mit Sternenaugen zwischen zwei Blitz-Emojis.

10/10 möchte ich mir so bald nicht wieder antun.

Last modified: 2025-03-22 Sat 08:28